"Ich kenne den Weg zu meinem Vater."
So heißt es gegen Ende des Romans. Dem selbstbewussten Satz des Ich-Erzählers geht eine hingebungsvolle Suche voraus. Von dieser Suche erzählt "Vaters Meer". Yunus ist dreizehn Jahre alt, als sein Vater kurz aufeinander zwei Schlaganfälle erleidet und zum Pflegefall wird. Er verliert seine Sprache und ist gelähmt, bewegen kann er nur noch seine Augenlieder. Er macht sich verständlich, indem er sie öffnet oder schließt.
Wer war der in jungen Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommene Mann, der nach zehn Jahren, umsorgt von seiner Frau, im Krankenbett in Hannover stirbt? Es ist diese Frage, die seinen Sohn umtreibt. Zeki wird in diesem Roman der Erinnerung nach und nach immer kenntlicher und behält doch etwas Unergründliches.
Und das hat nicht nur damit zu tun, dass der Ich-Erzähler, der manches mit dem Autor gemein hat, um die Unsicherheit der Erinnerung weiß. Zeki ist ein Mann, den das Leben zur Härte erzogen hat, der laut flucht und rasch aufgebracht ist. Zimperlich geht er mit niemandem um. Sein Sohn erinnert sich:
"Einmal rief mein Vater von der Arbeit an und sagte, er habe ein Kaninchen für mich. Ich war vor Freude außer mir, er wusste, dass ich mir ein Zwergkaninchen wünschte. (...) Als ich Vaters Schlüssel im Schloss hörte, rannte ich ihm entgegen auf den Flur. "Wo ist mein Kaninchen?", fragte ich und ging einige Schritte auf ihn zu. "Na hier", sagte Vater lachend und zog aus einer Tüte einen roten Fleischklumpen, den er an den Pfoten hochhielt und mir entgegenstreckte."
Der darauf folgende Erinnerungssplitter erzählt jedoch eine ganz andere Geschichte. Denn der zuweilen harsche Mann hat auch eine ausgeprägte weiche Seite. Zur Einschulung schenkt der Vater seinem Sohn ein Kaninchen mit flauschigem Fell, es wird auf den Namen Tomurcuk getauft. Gemeinsam bringen sie es nach Hause und beobachten das Tier.
"Tomurcuk fraß sich durch ein Salatblatt, das größer war als er selbst, und das erzeugte ein Glücksgefühl in mir. Ich schaute zu Vater und sah, dass auch er das Zwergkaninchen mit einer Zufriedenheit betrachtete."
Wer also war der Mann, der sich so herzlos und so fürsorglich zeigen konnte? Deniz Utlu, als Kind türkischer Eltern 1983 in Hannover geboren, formt aus Erinnerungen, Dokumenten und Geschichten das vielschichtige Bild eines widersprüchlichen Menschen.
Der faszinierende Roman gleicht dabei einem Puzzle. Aus vielen Teilen, die auf ihre Passgenauigkeit hin ausprobiert werden, entsteht nach und nach ein immer kompletteres und interessanteres Bild. Häufig wird dem Sohn dabei bewusst, dass er sich eigentlich nicht genau erinnern kann. Die Erinnerungslücken füllt er mit Imagination.
"Eine Erinnerung ruft die nächste. Wo ich eine Wüste erwarte, stoße ich auf ein Meer. Hinter einem Felsvorsprung, den ich kenne, gelange ich an unbekannte Buchten. Ein Detail, das das Gedächtnis scheinbar willkürlich abgespeichert hat, enthält eine ganze Geschichte."
Und so enthält auch der Roman viele Geschichten: Beinah märchengleiche Züge hat die von Armut und Abenteuern bestimmte Kindheit Zekis in der südostanatolischen, multireligiösen, uralten Stadt Mardin. Zekis Vater ist Metzger, und er schlachtet auch das liebste Tier seines Sohnes. Dieser will anders leben, er geht zum Studium nach Istanbul und verdient sich seinen Unterhalt als Tellerwäscher.
Später besteigt er ein Schiff, das ihn nach Kanada bringen soll, doch er erkrankt an Tuberkulose und muss in Hamburg von Bord gehen. Er studiert noch einmal, und er heiratet zweimal. Seine erste Frau verlässt ihn mit der gemeinsamen Tochter. Lange Jahre lebt er allein, bis er Senem, Yunus‘ Mutter, in Ankara kennenlernt und sie dazu überredet, nach Hannover zu kommen.
Deniz Utlu erzählt nicht zuletzt auch von Senem, die ihre eigenen Ambitionen zurückstellt, um für ihren Mann und ihren Sohn da sein zu können. Sie sei die eigentliche Heldin dieser Geschichte, hat der Autor in einem Interview gesagt. Deniz Utlu nimmt zudem die Schwierigkeiten der Einwanderer und das Heranwachsen eines sensiblen Jungen in Hannover in den Blick.
Doch "Vaters Meer" ist vor allem ein von Liebe und Respekt geprägtes großes Vaterbuch. Der leidenschaftliche, berührende, herzenswarme und kluge Roman gehört zu den Büchern, die man gleich noch einmal lesen will.
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Reihe: Lesereihe buchhaltung
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